Der Rio Carioca und Largo do Boticário
Auch wenn ich gefühlt mehr als zwanzig Mal Zeit in Rio verbracht habe, seit ich das erste Mal in Brasilien war, so habe ich, wie wohl die meisten, weder dem Rio Carioca noch einem historischen Ort wie dem Largo do Boticário besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Oder noch ehrlicher – ich habe diese kaum zur Kenntnis genommen. Auf meiner Inspektionsreise im März/April haben wir diese “Lücke” nun geschlossen. Und interessante Orte gesehen und einiges über die Geschichte von Rio gelernt. Außerdem habe ich den Versuch unternommen,zu klären, warum die Cariocas, die Bewohner Rios, sich so nennen und seit wann dies wirklich der Fall ist. Und, last, but not least, entdeckt, dass vor mir bereits James Bond im Largo do Boticário zu Besuch war.
Daniela Schnitzspahn, Rio im März 2019
Rio Carioca – der versteckte Fluss
Heute ist der Rio Carioca trotz des bekannten Namens fast in Vergessenheit geraten. Dies beruhtvor allem darauf, dass er mit Ausnahme von 3 Stellen durchwegs kanalisiert und unterirdisch verläuft. Zu sehen ist sein Wasserlauf heute nur noch an der Quelle im Tijuca-Wald, am Largo do Boticário im Stadtbezirk Cosmo Velho und an der Mündung am Strand von Flamengo.
Dabei war dieser kleine Rio Carioca einst der wichtigste und berühmteste Fluss der Stadt. Schon für die Indios des Stammes der Tamoyo, die das Gebiet von Rio zu Zeit der Kolonisierung bewohnten, hatte er einen hohen Stellenwert. Denn nach ihren Vorstellungen hatte das Wasser des Rio Carioca magische Kräfte. so sollte ein Bad in seinem Wasser die Frauen schöner und die Männer männlicher machen!
Jedenfalls ist der Rio Carioca eng mit der Entwicklung von Rio verbunden und wurde seit den Anfängen der Kolonialzeit als Süßwasserquelle genutzt und speiste die Brunnen der ersten Siedlungen. Auch aus diesem Grund wurde bereits 1503 auf Geheiß des portugiesischen Entdeckers und Seefahrers Gonçalo Coelho, an seiner Mündung ein Haus errichtet, das als „Landmark“ für Rio de Janeiro dienen sollte. (Dessen Namen wird bei dem Versuch, das Wort “Carioca“ zu erklären, eine Rolle spielen.)
Bereits im 17. und 18. Jahrhundert wurden die Wasser des Rio Carioca während des Baus des Aquädukts umgeleitet und zur Versorgung weiterer Brunnen verwendet. Auch deswegen blieb der Fluss während der gesamten Kolonialzeit die wichtigste Wasserquelle für die Bevölkerung. 1905 veranlasste der damalige Bürgermeister Pereira Passos zur Verhinderung von Überschwemmungen, dass der Fluss kanalisiert und weitestgehend unter die Erde verlegt wurde. Und ein letztes Mal spielte der Fluss 2003 eine Rolle, als mit dem Bau einer Kläranlage an der Mündung in Flamengo endlich die in ihn -auch ungenehmigt- eingeleiteten Abwässer gereinigt wurden.
Warum die Cariocas sich so nennen …
Wenn man sich schon mit dem Rio Carioca beschäftigt, dann liegt es natürlich nahe, sich auch nach dem Ursprung dieses Namens zu fragen. Denn nicht nur der Fluss, sondern vor allem auch die Einwohner von Rio werden ja mit diesem Begriff “Carioca” bezeichnet. Um es gleich vorweg zu nehmen: Auch eine eingehende Recherche anhand brasilianischer Quellen führt zu keinem abschließenden Ergebnis, sondern nur zu 2 verschiedenen Begründungen, wobei zumindest sicher ist, dass der Begriff aus der Sprachen der Tupimayo, dem Tupí hergeleitet wird.
Die erste und wohl auch herrschende Theorie leitet den Namen des Rio Carioca von der Bezeichnung des 1503 an der Flussmündung in Flamengo errichteten Gebäudes durch die Tamoyo her. Diese sollen das Gebäude „Akari Oka“ genannt haben, was in etwa mit „Haus der Weißen“ frei übersetzt werden könnte. Genauer wäre es aber, Haus des (port.) „Cascudo“ zu übersetzen. Denn „Cascudo“ war wegen der Ähnlichkeit zwischen der Rüstung der europäischen Seefahrer und dem plattenartigen Schuppenpanzer des Fisches der Spitzname der Indios für die Weißen.
Nach der 2. Theorie rührt der Begriff „Carioca“ von einem Indiodorf im heutigen Bezirk Glória her, wo damals die zweite Mündung des Flusses lag. Dieses Dorf wurde von dem Franzosen Jean de Léry (1536-1613) in seinem Bericht über die France Antarctique (so die Bezeichnung der von den Franzosen beherrschten Region um Rio) erwähnt. Der Name des Dorfes soll demnach Karîoka, Kariók oder Karióg gewesen sein.
Beide Erklärungen klingen plausibel, so dass sich jetzt jeder die ihm genehme heraussuchen kann …
Und ab wann wurden die Einwohner von Rio als Cariocas bezeichnet bzw. nannten sich so?
Die Bezeichnung “Carioca” für die Bewohner des Gebiets von Rio gibt es wohl seit Anfang des 16. Jahrhunderts, aber insbesondere seit 1783 war die offizielle Bezeichnung des Bevölkerung “Fluminense” (von denm lateinischen Wort “flūmen” – Fluss – entlehnt). So blieb “Carioca” lange Zeit bis zu den Anfängen der Republik ein Spitzname und wurde auch teilweise zur Zeit der Republik abschätzig nur für Bewohner von Armenvierteln verwendet. Eigentlich erst mit dem Umzug der Hauptstadt von Rio nach Brasilía bekam “Carioca” einen offizielleren Anstrich und wird inzwischen von den Einwohnern von Rio stolz verwendet und ist auch im übrigen Brasilien für die Einwohner von Rio gebräuchlich.
Der Largo do Boticário
Die Häuser am Largo do Boticário und der davor liegende Platz strahlen, auch wenn sie zwischenzeitlich recht baufällig und abgesperrt sind, noch den malerischen Charme des alten Rios aus. Vor allem ist es ein verwunschen wirkender Winkel, der zwar mitten im lebhaften Viertel Cosmo Velho gelegen ist, aber vor allem Ruhe ausstrahlt. Entstanden ist der “Platz des Apothekers”, so die die Übersetzung, in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts. Seinen Namen hat er von einem ehemaligen Bewohner, dem Sergeant Major Joaquim José da Silva Souto, bekannt als Boticário, der hier eine Botica (Apotheke) betrieb. Das jetzt noch sichtbare Ensemble entstand für wohlhabende Eigentümer um 1920, wobei der koloniale Stil dadurch bewahrt wurde, dass ausschließlich Baumaterialien aus in Rio abgerissenen Kolonialhäusern verwendet wurden. Man sieht den Häusern auch im heutigen Zustand noch an, dass hier einmal viele bekannte und renommierte Persönlickeiten ihr Domzil errichten ließen. Auch wenn man heute nur noch von außen die baufälligen Gebäude auf sich wirken lassen kann, sollte man sich die Zeit für einen kurzen Besuch nehmen. Dabei kann man auch eine Blick auf den kleinen Rio Carioca werfen.
Gut verbinden lässt sich das mit einem Besuch des Corcovado, dessen Bahnstation nahe liegt. Im Übrigen ist ganz in der Nähe auch das berühmte Museum für naive Kunst. Auf einer Privattour sollte es jedenfalls kein Problem sein, mit dem Führer diesen Abstecher zu machen.
Zwei interessante Punkte seien noch erwähnt. Geplant ist wohl, dass eine Hotelgruppe sich des historischen Objekts annimmt (ich hoffe, dies ist der Fall, bevor der Platz endgültig verfällt). Und: Durch Zufall habe ich vor kurzem eine Wiederholung des 1979 gedrehten James-Bond-Films “Moonraker – Streng geheim” gesehen und dabei festgestellt, dass die Häuser am Largo do Boticário in diesem Film als Versteck des englischen Geheimdienstes dienen! (Gratulation an die Location-Scouts. Aber warum Roger Moore im Film diesen Platz in Rio mittels eines Ritts durch das Hochland erreicht, wird das Geheimnis der Filmemacher und der Schnitttechnik bleiben…)